„Wir nehmen jede Hilfe gerne an“

Interview mit Dr. Alexei Kiryukhin aus Charkiw und Dr. Hans-Günther Clev, ZukunftsRegion Westpfalz e.V.

Seit der Gründung des Vereins ZukunftsRegion Westpfalz ist uns der Austausch mit unseren Nachbarn von großer Bedeutung. Neben der Zusammenarbeit mit unseren direkten Nachbarregionen und den Nachbarländern innerhalb der EU bestehen jahrelange freundschaftliche Beziehungen in die Ukraine und nach Russland. Seit 2018 sind wir über eine Kooperationsvereinbarung mit der „Eastern European Service for Cross-border Initiatives“ verbunden.

Einer unserer wichtigsten Partner ist dort Dr. Alexei Kiryukhin, der kürzlich aus seiner schwer bombardierten Heimatstadt Charkiw in der Ostukraine fliehen musste. Am vergangenen Montag war er in der Geschäftsstelle unseres Vereins zu Besuch und stand für ein gemeinsames Interview mit ZRW-Geschäftsführer Dr. Hans-Günther Clev zur Verfügung. Er berichtet von der Lage in seiner Heimat, beschreibt seine Flucht und gibt eine Einschätzung zur Zukunft grenzüberschreitender Zusammenarbeit.

Mit dem Interview möchten wir authentische Informationen aus erster Hand liefern und daran erinnern, dass die Situation im Kriegsgebiet nach wie vor prekär ist. Unsere Mitglieder, unser Netzwerk und alle hilfsbereiten Menschen innerhalb und außerhalb der Westpfalz möchten wir dazu ermutigen, sich unserem Spendenaufruf anzuschließen.

DIE WESTPFALZ SPENDET FÜR DIE UKRAINE

EMPFÄNGER: OLEKSIY KIRYUKHIN

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BIC/SWIFT: KHABUA2K

VERWENDUNGSZWECK: HUMANITÄRE HILFE UKRAINE

Herr Kiryukhin, Sie kommen aus Charkiw, einer der am schwersten getroffenen Städte in der Ukraine, einer Grenzstadt zu Russland. Wie ist die Lage dort und wie war ihr Weg bis hier heute in Kaiserslautern?

Lange habe ich versucht, in meiner Heimatstadt auszuharren, aber im Zuge immer heftiger Bombardierung und immer größerer Zerstörungen habe ich einsehen müssen, dass es zu gefährlich wurde und ich von dort aus auch nichts mehr tun konnte. Deshalb habe ich schweren Herzens die Stadt verlassen, bin dann über Kiew weiter an die Grenze zur Slowakei, nach Bratislava, von dort nach Berlin, wo mich mein Neffe aufgenommen hat. Jetzt bin ich auf dem Weg nach Straßburg zum Innovationstag Oberrhein, wo ich am Dienstag erwartet werde.

ZUR PERSON

Dr. Alexei Kiryukhin, geboren am 22.02.1959, stammt aus der ukrainischen Stadt Charkiw, wo er an der staatlichen Universität seine wissenschaftliche Karriere begann. Er war an zahlreichen grenzüberschreitenden und europäischen Kooperationsprojekten im Bereich der Regionalplanung und des Umweltschutzes beteiligt und gilt mit mehr als 65 Veröffentlichungen als Experte auf diesem Gebiet. Seit 2000 arbeitet er als Berater für grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Exekutivausschuss des Rates der Grenzregionen von Belarus, Russland und der Ukraine. 2003 hat er das Projekt „Border Belarus-Russia-Ukraine“ ins Leben gerufen und ist dort als Koordinator tätig.

Herr Dr. Clev, woher kennen Sie Herrn Dr. Kiryukhin?

Wie kennen uns seit nunmehr 13 Jahren, als wir beide in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gearbeitet haben. Ich damals bei der MOT in Paris. Seither ist der Kontakt nicht nur nicht abgerissen, sondern intensiviert worden. Vor wenigen Jahren wurde auch eine formelle Kooperation geschlossen und wechselseitige Unterstützung gewährt und gemeinsame Projekte umgesetzt. Zuletzt ging es um eine Kooperation von Geoparks und touristische Aktivitäten. Ich war deshalb zuletzt im November 2019 bei ihm in Charkiw.

Sie rufen zur Unterstützung der Opfer dieses Krieges auf. Warum erst jetzt?

Wir haben in vielen Staaten, auch in Deutschland und hier in der Westpfalz eine beeindruckende Welle an Solidarität und Hilfsbereitschaft erlebt und das war auch absolut richtig. Allerdings hat sich diese auf die hier ankommenden Kriegsflüchtlinge konzentriert. Diejenigen, die nicht aus den umkämpften Gebieten hinauskommen oder ausharren, auch viele alte Menschen, haben auf ein schnelles Ende der Kämpfe gehofft. Danach sieht es leider nicht aus und ihre Situation wird immer prekärer. Auch werden Hilfskonvois überfallen. Wir dürfen jetzt nicht zur Tagesordnung übergehen und es zulassen, dass andere Themen – und seien es hohe Benzinpreise – das Leid der Menschen von den Titelseiten und aus unserem Bewusstsein verdrängt. Wir brauchen einen „zweiten Atem“. Wir haben daher unsere Verbindungen in die Ukraine nutzen wollen, um gezielt und über zuverlässige Kanäle zu helfen. Deswegen sitzen wir heute zusammen und deswegen hat Herr Kiryukhin diesen langen und gefährlichen Weg aus Charkiw auf sich genommen.

Herr Dr. Kiryukhin, Sie haben seit vielen Jahren in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gearbeitet, vor allem der Universitäten und dies primär zwischen den Hochschulen im Grenzraum Ukraine – Russland – Weißrussland. Ist es nicht erschütternd, jetzt von seinen bisherigen Partnern überfallen zu werden?

Diese Frage habe ich erwartet. Ja, ich arbeite seit vielen Jahren und aus tiefer Überzeugung für die grenzüberschreitende Kooperation. Ich glaube an die friedliche und konstruktive Zusammenarbeit von Nachbarn zum Wohle der Menschen. Da habe ich auch meinen Freund Herrn Dr. Clev kennengelernt, der ähnliche Erfahrungen auf gesamteuropäischer Ebene hat.

Natürlich bin ich, wie viele meiner Mitbürger, schockiert und entsetzt über das, was jetzt geschieht. Seit vielen Jahren führen wir gemeinsam mit meinen Kollegen sozial orientierte grenzüberschreitende Kooperationsprogramme mit benachbarten Regionen der Russischen Föderation durch. Seit 1995 wurde dafür ein breiter zwischenstaatlicher Regelungsrahmen geschaffen, beginnend mit dem Großen Kooperationsabkommen von 1997, dem Abkommen zwischen den Regierungen über die Zusammenarbeit der Grenzregionen von 1995, langfristigen zwischenstaatlichen Programmen zur interregionalen und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit sowie der Einführung europäischer Kooperationsinstrumente. Im Zeitraum 2003-2010 wurden vier Euroregionen entlang der gesamten ukrainisch-russischen Grenze geschaffen. Diese Euroregionen übernahmen nicht nur die besten Praktiken aus Europa und der EU, sondern wurden auch Vollmitglieder der Arbeitsgemeinschaft Europäischer Grenzregionen und zahlten regelmäßig Beiträge an diese älteste paneuropäische Organisation. Deren Hauptsitz befindet sich übrigens in Deutschland, in der Stadt Gronau, wo die europäischen Initiativen zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ihren Anfang nahmen.

Gemeinsam mit europäischen Experten wurde auch ein integriertes Einzugsgebietsprogramm zum Schutz und zur Nutzung der Gewässer des zweimal grenzüberschreitenden Flusses Sewerskij Donez entwickelt. Es wurden ergänzende Strategien für die Entwicklung der angrenzenden Grenzgemeinden ausgearbeitet. Und schließlich gibt es seit 2003 ein grenzüberschreitendes Universitätskonsortium, bestehend aus 11 Mitgliedsuniversitäten, aktiv, das ähnliche Aufgaben wie EUCOR hat.

Wenn wir zehn Jahre zurückblicken, erscheint der derzeitige Krieg monströs und absurd. Wir brauchen große diplomatische Anstrengungen, wir brauchen Frieden und wir brauchen einen klaren Himmel ohne fliegende Raketen und angreifende Flugzeuge. Europa muss wohlhabend, friedlich, frei und stark sein. Dennoch wird es eine sehr schwere Hypothek für die Zukunft sein. Es wird viel Zeit brauchen, um sie zu überwinden und Menschen, wie seinerzeit De Gaulle und Adenauer, die die Größe und den Mut haben, aufeinander zuzugehen.

Wie lange wird das nach Ihrer Einschätzung dauern?

Das ist ganz schwer vorherzusagen. Zunächst wird die russische Öffentlichkeit die Wahrheit erfahren, dann akzeptieren müssen. Viele tiefe Risse, die teilweise quer durch Familien gehen, müssen überwunden und Wunden heilen müssen. Und die vielen Toten sind zu betrauern, sie hinterlassen schmerzhafte Lücken in vielen Familien. Und der Wiederaufbau – das alles wird Zeit und riesige Anstrengungen erfordern. Aber, sie wissen ja, ich bin Geologe, ich bin es gewohnt in längeren Zeiträumen zu denken. Wichtiger ist, dass wir und ganz Europa die richtigen Lehren aus diesem Disaster ziehen. Damit die Opfer, die wir jetzt bringen, nicht völlig umsonst sind.

Sie sind heute nach Kaiserslautern zu ihrem Partner ZRW gekommen, um Hilfe für Ihre Landsleute zu organisieren. Was wird denn zur Zeit an dringendsten benötigt?

Ja, wir haben uns an unseren Kooperationspartner, die ZRW, gewandt und um Unterstützung gebeten. Diese wurde uns auch umgehend zugesagt, wofür ich außerordentlich dankbar bin. Ich weiß, die ZRW ist ein Verein, ein Netzwerk und keine finanzstarke Regierung oder ähnliches – aber was auch immer an Hilfe möglich ist, nehmen wir gerne an. Ich kann jedem, der uns hilft, nur zusichern, dass bei uns weder Verwaltungskosten, Gebühren oder dergleichen anfallen. Ich verbürge mich persönlich dafür, dass alles in Hilfsgüter investiert wird und diese auch denjenigen übergeben werden, die sie dringend benötigen. Es geht in erster Linie um Lebensmittel, da die Lieferketten unterbrochen sind, keine Einkünfte mehr bestehen und es schlicht mancherorts auch nichts zu kaufen gibt. Ich rede von Fertigprodukten wie Suppen, Kartoffelbrei, Reis, ich rede von Babynahrung und Tierfutter für die Haustiere. Oft sind sie die einzigen Lebewesen, die den alten Menschen noch geblieben sind. Auch wenn die Menschen Vorrang haben, sollten wir auch sie nicht vergessen.  

Heimat von Alexei Kiryukhin: Die ostkukrainische Stadt Charkiw.

Wir brauchen einen klaren Himmel ohne fliegende Raketen und angreifende Flugzeuge.

ALEXEI KIRYUKHIN

Herr Dr. Clev, kann denn die ZRW und ihr Netzwerk etwas bewirken, es gibt doch schon so viele und weit größere Organisationen, bis hin zur EU, die umfassende Unterstützung leisten?

Das stimmt. Indes ist das kein Grund, die Hände in den Schoß zu legen. Wir sind uns durchaus der Begrenztheit unserer Möglichkeiten bewusst. Aber wir werden selbst einen substanziellen Betrag spenden und appellieren an unsere Mitglieder und Freunde, sich uns anzuschließen. Es mag im Vergleich zu dem, was die EU oder große Aktionsbündnisse auf die Beine stellen, bescheiden sein, aber es ist mehr als der sprichwörtliche „Tropfen auf den heißen Stein“. Wir helfen gezielt, und wenn es nur ein einziges Menschenleben rettet, war es nicht vergebens. Und es wird weit mehr sein, als ein symbolischer Akt. Jene, die in Kellern ohne Nahrung ausharren, dürfen nicht allein gelassen werden. Ich war oft in diesem Land, kenne viele Menschen dort und mir blutet das Herz, wenn ich sehe und höre, was zur Zeit dort geschieht. Nichts tun ist keine Option.

DIE WESTPFALZ SPENDET FÜR DIE UKRAINE

EMPFÄNGER: OLEKSIY KIRYUKHIN

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VERWENDUNGSZWECK: HUMANITÄRE HILFE UKRAINE

Wir weisen darauf hin, dass aufgrund der Überweisung an eine Privatperson leider keine Ausstellung von steuerlich abzugsfähigen Spendenquittungen möglich ist. Die ZRW und Alexei Kiryukhin bedanken sich im Namen aller Betroffenen herzlich für Ihre Spende.

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